Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg

Beschluss vom 22.03.2018

Geschäftsnummer: 6 S 6.18

Leitsatz

Der Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege aus § 24 Abs. 2 SGB VIII besteht nicht nur im Rahmen vorhandener Kapazitäten, sondern verpflichtet den Träger der öffentlichen Jugendhilfe dazu, die erforderlichen Kapazitäten zu schaffen (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 2017 – 5 C 19/16 -). Fachkräftemangel und andere Schwierigkeiten entbinden nicht von der gesetzlichen Pflicht, Kindern, die eine frühkindliche Betreuung in Anspruch nehmen möchten, einen dem individuellen Bedarf gerecht werdenden Betreuungsplatz anzubieten.

Tenor

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 23. Januar 2018 wird auf die Beschwerde der Antragstellerin geändert.

Der Antragsgegner wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin bis zur Entscheidung in der Hauptsache nach Maßgabe des § 6 Abs. 4 Kindertagesförderungsverordnung einen Betreuungsplatz in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege in dem durch den Gutschein für die Tagesbetreuung vom 4. Juli 2017 bewilligten Umfang für eine Betreuung ab Beginn der 18. Kalenderwoche 2018 nachzuweisen.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Kosten beider Rechtszüge trägt der Antragsgegner.

Gründe

I.

Die am 28. Februar 2017 geborene Antragstellerin begehrt die Zuweisung eines Betreuungsplatzes zur frühkindlichen Förderung. Sie wohnt mit ihren Eltern im Bezirk F… von Berlin. Der Vater der Antragstellerin befindet sich seit dem 28. Februar 2018 in Elternzeit, die am 27. April 2018 endet. Die Elternzeit der Mutter der Antragstellerin endete bereits zum 1. März 2018. Es ist geplant, dass der Vater die Antragstellerin zur Kita bringt und die Mutter sie abholt. Beide Eltern geben an, die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen.

Die Eltern der Antragstellerin meldeten diese am 22. Mai 2017 zur frühkindlichen Förderung in einer Kinderbetreuungseinrichtung zum 1. März 2018 an. Sie teilten mit, ihre Tochter bereits in mehreren Kindertagesstätten angemeldet zu haben. Mit Bescheid vom 4. Juli 2017 stellte der Antragsgegner einen Gutschein für die Tagesbetreuung des Kindes ab dem 1. März 2018 für einen Ganztagsplatz über sieben Stunden bis höchstens neun Stunden täglich in einer Tageseinrichtung bzw. für einen entsprechenden Betreuungsumfang in Kindertagespflege aus.

Im Dezember 2017 teilten die Eltern der Antragstellerin dem Antragsgegner mit, sich bislang erfolglos an fünfundzwanzig Kindertagesstätten gewendet zu haben. Der Antragsgegner teilte ihnen daraufhin mit, momentan keinen Betreuungsplatz anbieten zu können.

Das Verwaltungsgericht Berlin wies mit Beschluss vom 23. Januar 2018 den auf Zuweisung eines Betreuungsplatzes ab dem 1. März 2018 gerichteten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurück. Die Antragstellerin habe einen Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht. Weder in den von ihr genannten Wunscheinrichtungen noch in allen anderen im Bezirk F… ansässigen Kitas gebe es derzeit freie Plätze. Dies gehe aus einer aktuellen Nachfrage des Antragsgegners bei allen Kita-Trägern von Ende Dezember 2017 hervor. Freie Kapazitäten würden auch von der Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht. Der Antragsgegner habe dargelegt, dass die Kindertagesstätten gemäß Betriebserlaubnis aktuell eine Kapazität von 15.307 Plätzen hätten. Aufgrund von Fachkräftemangel sowie laufenden Baumaßnahmen könnten diese Plätze nicht in vollem Umfang vergeben werden, es seien daher lediglich 14.504 Plätze verfügbar, die alle bereits vergeben seien. Die Zuweisung eines Platzes sei daher rechtlich nicht möglich. Es bestehe auch kein Anspruch auf Neuschaffung von Einrichtungen in Trägerschaft des Antragsgegners. Der Rechtsanspruch sei auf das tatsächlich vorgehaltene Angebot beschränkt. Damit wandle sich der Rechtsanspruch in einen Sekundäranspruch auf Aufwendungsersatz in Form der Kostenerstattung für eine selbstbeschaffte Hilfe um. Der Leistungsberechtigte könne unter Umständen auch Schadensersatzansprüche aus Amtspflichtverletzung geltend machen. Dem Erlass einer einstweiligen Anordnung stehe auch entgegen, dass der Antragsgegner als Träger der öffentlichen Jugendhilfe den Fachkräftemangel nicht kurzfristig beseitigen könne, etwa durch Schaffung von eigenen Interimseinrichtungen. Die einstweilige Anordnung wäre auf etwas Unmögliches gerichtet.

Hiergegen wendet sich die Antragstellerin mit der vorliegenden Beschwerde.

II.

Die Beschwerde der Antragstellerin hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang weit überwiegend Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 Abs. 1 VwGO zu Unrecht in vollem Umfang abgelehnt. Der angegriffene Beschluss war daher zu ändern.

1. Die Antragstellerin hat gegen den Antragsgegner einen Anspruch auf Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege in dem durch den Gutschein für die Tagesbetreuung vom 4. Juli 2017 festgestellten Umfang, wobei der nachzuweisende Betreuungsplatz nach Maßgabe des § 6 Abs. 4 VOKitaFöG angemessen erreichbar zu sein hat.

Nach § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII hat ein Kind, das das erste Lebensjahr vollendet hat, bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege. Der Umfang der täglichen Förderung richtet sich nach dem individuellen Bedarf (§ 24 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 24. Abs. 1 Satz 3 SGB VIII).Der Anspruch als solches und der Betreuungsumfang stehen zwischen den Verfahrensbeteiligten nicht im Streit. Der Antragsgegner hat mit bestandkräftig gewordenem Bescheid vom 4. Juli 2017 eine frühkindliche Betreuung in Form eines Ganztagsplatzes bewilligt.

a) Der Anordnungsanspruch wird durch die von dem Antragsgegner behauptete Kapazitätserschöpfung nicht berührt. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der sich der Senat anschließt, ist geklärt, dass der Rechtsanspruch auf frühkindliche Förderung keinem Kapazitätsvorbehalt unterliegt.Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist verpflichtet zu gewährleisten, dass ein dem Bedarf in qualitativer und quantitativer Hinsicht gerecht werdendes Angebot an Fördermöglichkeiten in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege vorgehalten wird. Er hat gegebenenfalls die vorhandenen Kapazitäten so zu erweitern, dass sämtlichen anspruchsberechtigten Kindern ein ihrem Bedarf entsprechender Betreuungsplatz nachgewiesen werden kann (BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 2017 – 5 C 19/16 – juris Rn. 34 f.; vgl. auch OVG Bautzen, Beschluss vom 7. Juni 2017 – 4 B 100/17 – juris Rn. 7). Die Amtspflicht, einen Betreuungsplatz zur Verfügung zu stellen, besteht nicht nur im Rahmen der vorhandenen Kapazität. Den gesamtverantwortlichen Jugendhilfeträger trifft vielmehr die unbedingte Pflicht, eine ausreichende Zahl von Betreuungsplätzen selbst zu schaffen oder durch geeignete Dritte – freie Träger der Jugendhilfe, Kommunen oder Tagespflegepersonen – bereitzustellen (vgl. BVerfG, Urteil vom 21. November 2017 – 2 BvR 2177/16 – juris Rn. 134; vgl. auch VGH München, Urteil vom 22. Juli 2016 – 12 BV 15.719 – juris Rn. 27).

Hiervon ausgehend kann die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass sich der Anspruch auf einen Betreuungsplatz auf das tatsächlich vorhandene Angebot beschränke, keinen Bestand haben. Fachkräftemangel und andere Schwierigkeiten entbinden nicht von der gesetzlichen Pflicht, Kindern, die eine frühkindliche Betreuung in Anspruch nehmen möchten, einen dem individuellen Bedarf gerecht werdenden Betreuungsplatz anzubieten. Auf die Frage, ob dem Antragsgegner die Bereitstellung eines Betreuungsplatzes tatsächlich unmöglich ist, kommt es daher nicht entscheidungserheblich an. Das gilt auch für die Annahme der Vorinstanz, dass sich der Rechtsanspruch nach § 24 Abs. 2 SGB VIII im Falle der Kapazitätserschöpfung in einen Sekundäranspruch auf Aufwendungsersatz in Form der Kostenerstattung für eine selbstbeschaffte Betreuung umwandle. Auch der von der Antragstellerin aufgeworfenen und von der Vorinstanz offen gelassenen Frage, ob der Nachweis der Erschöpfung der Kapazitäten voraussetze, dass ein sachgerecht ausgestaltetes und durchgeführtes Verfahren zur Vergabe der Kindergartenplätze stattgefunden habe, ist nicht nachzugehen. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass das im Land Berlin praktizierte Gutscheinsystem, wonach die Eltern darauf verwiesen werden, sich selbst einen Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung zu beschaffen, den Antragsgegner nicht von seiner gesetzlichen Nachweispflicht entbindet. Dies hat der Antragsgegner im Erörterungstermin selbst eingeräumt.

b) Selbst wenn man entgegen der höchstrichterlichen Rechtsprechung den von dem Antragsgegner geltend gemachten Einwand der Kapazitätserschöpfung für rechtlich erheblich hielte, ist weder hinreichend dargetan noch ersichtlich, dass der Erlass einer einstweiligen Anordnung auf die Verpflichtung zur Erbringung einer unmöglichen Leistung gerichtet ist. Der Antragsgegner hat nicht alle erdenklichen Maßnahmen ausgeschöpft, um den von ihm behaupteten Kapazitätsengpass auszuräumen. Der Senat verkennt nicht, dass der Antragsgegner einerseits umfangreiche Maßnahmen ergriffen hat, um den Ausbau von Betreuungskapazitäten für die frühkindliche Förderung weiter voranzutreiben. Dazu zählen nach dem Vorbringen des Antragsgegners in dem vor dem Senat durchgeführten Erörterungstermin vor allem Maßnahmen zur Beseitigung des Fachkräftemangels. Auf der anderen Seite ist zu berücksichtigten, dass die in den letzten Jahren schrittweise erfolgte Verbesserung des Personalschlüssels für das sozialpädagogische Fachpersonal in Kindertageseinrichtungen für sich genommen dazu führt, dass sich die Zahl der verfügbaren Betreuungsplätze reduziert. In der Zeit vom 1. August 2005 bis zum 31. März 2010 kamen in der hier zu betrachtenden Altersgruppe der Kinder vor Vollendung des zweiten Lebensjahres bei einer Ganztagsförderung auf eine vollzeitbeschäftigte Fachkraft (38,5 Wochenarbeitsstunden) sechs Kinder. In der darauf folgenden Zeit vom 1. April 2010 bis zum 31. Juli 2016 galt ein Personalschlüssel von 1 zu 5. Seit dem 1. August 2016 ist ein Personalschlüssel von 1 zu 3,75 vorgesehen (vgl. § 11 Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a 1. Spiegelstrich KitaFöG in den jeweiligen Fassungen vom 23. Juni 2005, 17. Dezember 2009, 9. Mai 2016 und 19. Dezember 2017). Bereits vor diesem Hintergrund überzeugt es nicht, dass sich der Antragsgegner außer Stande sieht, seiner gesetzlichen Verpflichtung zum Nachweis eines bedarfsgerechten Betreuungsplatzes nachzukommen. Er hat es in der Hand, etwa durch eine übergangsweise Lockerung des Betreuungsschlüssels Betreuungsplätze in dem erforderlichen Umfang zu schaffen, zumal weder vorgetragen noch ersichtlich ist, dass die in der Vergangenheit geltenden Betreuungsschlüssel einer kindgerechten Betreuung entgegen gestanden hätten. Solange das beklagte Land nicht in der Lage ist, seiner Gewährleistungspflicht aus § 24 Abs. 2 SGB VIII in vollem Umfang nachzukommen, ist es verpflichtet, alternative Lösungen zu entwickeln.

c) Der Antragsgegner kann seine Verpflichtung aus § 24 Abs. 2 SGB VIII sowohl durch Nachweis eines bedarfsgerechten Betreuungsplatzes in einer Tageseinrichtung als auch in Kindertagespflege erfüllen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat folgt, besteht im Rahmen von § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII kein Wahlrecht zwischen einer Betreuung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege. Die Norm begründet keinen echten Alternativanspruch des Inhalts, dass das Kind von dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe nicht auf die Inanspruchnahme eines Betreuungsplatzes in der Kindertagespflege verwiesen werden kann, sofern Plätze in einer Tageseinrichtung nicht oder nicht rechtzeitig zur Verfügung stehen, und umgekehrt (vgl. BVerwG, a.a.O., juris Rn. 37 ff.; siehe auch OVG Bautzen, Beschluss vom 2. Oktober 2017 – 4 B 241/17 – juris Rn. 7).

2. Der Antragstellerin steht auch ein Anordnungsgrund zur Seite. Sie hat glaubhaft gemacht, ab der am 27. April 2018 endenden Elternzeit des Vaters in dem bewilligten Umfang auf einen Betreuungsplatz angewiesen zu sein. Soweit die Antragstellerin den sofortigen Nachweis eines Betreuungsplatzes begehrt, kann ihre Beschwerde hingegen keinen Erfolg haben.

Der Senat hält es in Ausübung des ihm nach § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 938 Abs. 1 ZPO eingeräumten Ermessens für erforderlich, dem Antragsgegner mit Blick auf die geltend gemachte, vor allem auf Fachkräftemangel zurückzuführende Kapazitätserschöpfung, die sich nach seinen Erläuterungen im Erörterungstermin sowohl auf Betreuungsplätze in Tageseinrichtungen als auch in Kindertagespflege bezieht, eine Umsetzungsfrist von fünf Wochen bis zum Beginn der 18. Kalenderwoche 2018 einzuräumen. Zu diesem Zeitpunkt endet die Elternzeit des Vaters der Antragstellerin. Die bis dahin zur Verfügung stehende Zeit ist nach Auffassung des Senats ausreichend bemessen, zumal der Antragsgegner den bestehenden Betreuungsbedarf bereits mit Erteilung des Gutscheins vom 4. Juli 2017 festgestellt hat und mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 3. Januar 2018 auf die am 27. April 2018 endende Elternzeit des Vaters der Antragstellerin hingewiesen worden ist.

3. Nachdem die Antragstellerin gemessen an ihrem Antrag nur zu einem äußerst geringen Teil unterlegen ist, waren dem Antragsgegner die Kosten beider Rechtszüge § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO ganz aufzuerlegen. Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).