Oberverwaltungsgericht
Berlin-Brandenburg

Beschluss

OVG 1 S 46.17  –  20. Oktober 2017

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Cottbus vom 17. Juli 2017 wird geändert: Der Antragsgegner wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig eine Fahrerlaubnis der Klasse BE zu erteilen.

Der Antragsgegner hat die Kosten beider Rechtszüge zu tragen.

Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird für beide Rechtszüge auf jeweils 5.000 Euro festgesetzt; insoweit wird die erstinstanzliche Festsetzung geändert.

Gründe

Die zulässige Beschwerde, bei deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO auf die form- und fristgerecht vorgetragenen Gründe der Antragstellerin beschränkt ist, hat Erfolg.

Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis ergehen, wenn diese Regelung nötig erscheint, u.a. um wesentliche Nachteile abzuwenden. Dies setzt zum einen voraus, dass der begehrte Anordnungsanspruch mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit voraussichtlich gegeben ist. Angesichts der staatlichen Schutzpflicht für das Leben und die Gesundheit der Verkehrsteilnehmer gilt dies im Fahrerlaubnisrecht in besonderem Maße, da das Führen fahrerlaubnispflichtiger Fahrzeuge im Straßenverkehr mit erheblichen Gefahren für diese Rechtsgüter einhergeht, wenn der Betroffene nicht fahrgeeignet oder zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht befähigt ist (vgl. Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Auflage 2017, § 20 FeV Rn. 6 m.w.N.). Ferner ist ein Anordnungsgrund glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 ZPO). Dieser muss die Eilbedürftigkeit der begehrten Anordnung erkennen lassen, weshalb es für den Antragsteller unzumutbar sein soll, eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten, so dass die vom Gericht zu treffende Regelung zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes notwendig erscheint. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.

1. Soweit der Antragsgegner unter Hinweis auf die entsprechende Kommentierung von Dauer (a.a.O., StVG § 2 Rn. 22 m.w.N.) daran festhält, dass die Erteilung einer vorläufigen oder vorübergehenden Fahrerlaubnis im Straßenverkehrsgesetz nicht vorgesehen sei und dies mangels Befristungs- oder Entziehungsmöglichkeit der Fahrerlaubnisbehörde im Ergebnis auf die endgültige Erteilung der Fahrerlaubnis hinauslaufen würde, folgt der Senat dem in ständiger Rechtsprechung (vgl. zuletzt Beschluss vom 13. Juli 2017 – OVG 1 S 41.17 -) nicht. Hierzu kann auf die insoweit zutreffenden Ausführungen im angegriffenen Beschluss (BA, S. 2 f.) verwiesen werden.

Ergänzend gilt Folgendes: Die zu erteilende Fahrerlaubnis beruht auf der verfahrensrechtlichen Anordnungsbefugnis des Gerichts nach § 123 Abs. 1 VwGO und nicht auf dem materiellen Recht. Die Regelungen des Straßenverkehrsgesetzes stehen daher nicht entgegen. Aus der Vorläufigkeit der Anordnung folgt des Weiteren, dass die Fahrerlaubnis der Antragstellerin ab Bestands- oder Rechtskraft einer für sie negativen Entscheidung in der Hauptsache ohne weiteres Zutun der Behörde entfiele und der Führerschein abgegeben werden müsste. Aus den Akten ist nicht erkennbar, dass die Antragstellerin bereits Klage erhoben hat. Eine nähere Beschränkung der Gültigkeit der zu erteilenden Fahrerlaubnis im Beschlusstenor („bis zur rechtskräftigen Entscheidung in dem Klageverfahren mit dem Aktenzeichen …“) kommt daher nicht in Betracht. Der Antragsgegner hat es jedoch in der Hand, durch den Erlass eines ablehnenden rechtsmittelfähigen Bescheids eine Entscheidung in der Hauptsache herbeizuführen.

2. Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit dargetan. Die Gutachtenanforderung der Fahrerlaubnisbehörde vom 23. Mai 2017 durfte bei summarischer Prüfung (auch) nicht auf § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a) Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) gestützt werden.

Ist nach einer einmaligen Trunkenheitsfahrt mit einer Blutalkoholkonzentration von weniger als 1,6 Promille (vgl. § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c) FeV) die Fahrerlaubnis durch das Strafgericht entzogen worden, darf die Fahrerlaubnisbehörde die Neuerteilung nicht allein wegen dieser Fahrerlaubnisentziehung von der Beibringung eines positiven medizinisch-psychologischen Gutachtens abhängig machen; die Voraussetzungen von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a), c), d) und e) FeV sind in diesem Fall nicht erfüllt. Anders verhält es sich, wenn zusätzliche Tatsachen im Sinne von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a) FeV die Annahme künftigen Alkoholmissbrauchs begründen (vgl. BVerwG, Urteile vom 6. April 2017 – 3 C 24.15 und 3 C 13.16 – juris jeweils Rn. 14). Auch im Fall der Antragstellerin, bei der nach ihrem Verkehrsunfall am 9. Juli 2016 eine Blutalkoholkonzentration von 1,3 mg/g (Promille) festgestellt wurde, rechtfertigen allein diese Trunkenheitsfahrt und die strafgerichtliche Fahrerlaubnisentziehung nicht die Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens.

Das Verwaltungsgericht hat im Wesentlichen daraus, dass die Antragstellerin mit ihrem Pkw im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit einen Verkehrsunfall verursacht habe und keine Ausfallerscheinungen aus dem ärztlichen Bericht über die Blutentnahme ersichtlich gewesen seien, sondern sie nur leicht unter Alkoholeinfluss zu stehen schien und bei dem „Romberg-Test“ lediglich ein geringes Schwanken zu verzeichnen gewesen sei, und die Antragstellerin gegenüber der Fahrerlaubnisbehörde am 18. Mai 2017 angegeben habe, sich „überhaupt nicht besoffen gefühlt“ zu haben, auf eine „gewisse Giftfestigkeit“ und damit auf hinreichende Zusatztatsachen im Sinne von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a) FeV geschlossen.

Diese Gesichtspunkte reichen nach Ansicht des Senats nicht aus, um die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens anzuordnen. Die Teilnahme der Antragstellerin am Straßenverkehr im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit stellt keine sonstige (Zusatz-)Tatsache dar. Alkoholmissbrauch im Sinne von § 13 Satz 1 Buchst. a) FeV bedeutet nach Nr. 8.1 der Anlage 4 zur FeV, dass das Führen von Kraftfahrzeugen und ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher getrennt werden können. Diese Annahme kann nicht allein darauf gestützt werden, dass die Antragstellerin mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,3 Promille mit einem Kraftfahrzeug am Straßenverkehr teilgenommen hatte (vgl. VGH München, Urteil vom 17. November 2015 – 11 BV 14.2738 – juris Rn. 22 ff. m.w.N.). Dass sie dabei einen Verkehrsunfall verursacht hatte, spricht angesichts des hohen Grads ihrer Alkoholisierung eher dagegen, dass dieses Fehlverhalten auf eine Alkoholgewöhnung zurückzuführen ist. Insbesondere die näheren Umstände des Unfalls am 9. Juli 2016 gegen 21:25 Uhr, wobei die Antragstellerin mit ihrem VW-Passat von der Ausfahrt eines Autobahnparkplatzes auf der BAB 10 nach rechts abgekommen und über eine Strecke von ca. 50 Meter auf der Leitplanke weitergefahren war, bevor sie mit ihrem Pkw darauf stehen blieb, machen deutlich, dass es sich hierbei mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein alkoholbedingtes Versagen der Antragstellerin gehandelt hatte, das gerade nicht für die angenommene Giftfestigkeit spricht. Zwar kann eine andere Unfallursache, wie eine Unaufmerksamkeit oder Ablenkung bei der Unfallentstehung generell nicht ausgeschlossen werden, wie es das Verwaltungsgericht für möglich gehalten hat. Doch weist insbesondere die lange Wegstrecke, die die Antragstellerin mit ihrem Pkw auf der Leitplanke zurückgelegt hatte, darauf hin, dass sie aufgrund der Alkoholwirkung mit der Situation gänzlich überfordert und deshalb nicht in einem Maße alkoholgewohnt war, um eine Gutachtenanordnung zu rechtfertigen. Der ärztliche Bericht über die Blutentnahme um 23:10 Uhr, in dem der Antragstellerin knapp zwei Stunden nach ihrem Unfall der äußerliche, wenn auch leichte Einfluss von Alkohol und ein geringes Schwanken bescheinigt wurde, lässt ebenfalls keinen verlässlichen Schluss auf eine missbräuchliche Alkoholgewöhnung zu (vgl. auch hierzu: VGH München, Urteil vom 17. November 2015, a.a.O., juris Rn. 25 ff. m.w.N.). Dass die Antragstellerin gegenüber der Fahrerlaubnisbehörde fast ein Jahr später angegeben habe, sich nicht „besoffen“ gefühlt zu haben, sagt insoweit nichts aus. Zweifel an dem Vorliegen der sonstigen nach § 20 Abs. 1 i.V.m. §§ 7 ff. FeV erforderlichen Voraussetzungen für die Neuerteilung der Fahrerlaubnis sind weder geltend gemacht worden noch sonst ersichtlich.

3. Die Antragstellerin hat den erforderlichen Anordnungsgrund jedenfalls im Beschwerdeverfahren hinreichend glaubhaft gemacht und die Richtigkeit ihrer diesbezüglichen Angaben eidesstattlich versichert. Auch wenn der Verlust des Arbeitsplatzes der Antragstellerin durch die Vorenthaltung der beantragten Fahrerlaubnis nicht droht, ist ein Anordnungsgrund ausnahmsweise gegeben, wenn die glaubhaft gemachten persönlichen Lebensumstände des Betroffenen den Erlass der begehrten vorläufigen Regelung zur Gewährung effektiven Rechtschutzes gebieten. So verhält es sich auch hier. Insbesondere die geschilderten Arbeits- und Wegezeiten, die schlechte öffentliche Verkehrsanbindung und nicht zuletzt die notwendige Versorgung ihrer hochbetagten und pflegebedürftigen Mutter durch die Antragstellerin lassen die alternative Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel ausnahmsweise nicht mehr als zumutbar erscheinen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG. Wegen der zeitweisen Vorwegnahme der Hauptsache kommt eine Halbierung des Auffangwertes hier nicht in Betracht; insoweit ist die erstinstanzliche Festsetzung zu ändern.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).